Einmal sensibilisiert begegnet man der Prosopagnosie z.B. beim Radiohören oder Lesen. Jane Goodall, die durch
ihre Feldforschung mit Schimpansen berühmt wurde, Oliver Sacks der Autor des Bestsellers Der Mann der seine Frau
mit einem Hut verwechselte und Lois Duncan, eine Jugendbuch-Bestsellerautorin, sind selbst Betroffene.
Sigrid Eichhorns Erfahrungen mit Prosopagnosie
Andere beschreiben Figuren mit diesem Phänomen wie Humpty Dumpty aus Lewis Carroll´s Through the looking glass
oder machen es zum Inhalt eines Gedichtes wie Eugen Roth Die guten Bekannten.
Es gibt noch eine Reihe weiterer berühmter Leute. Sobald ich deren Zustimmung und entsprechende Zitate habe,
werde ich diese hier vorstellen.
"Ich bin stark "Betroffene" und bin durch die Ü-Wagen- Sendung von Julitta Münch (früher Carmen Thomas) auf
Professor Kennerknecht "gestoßen", bzw. er ist auf mich gestoßen. Ich war zu der Sendung im März 2002 eingeladen.
In der Sendung ging es um verschiedene menschliche "Macken". Professor Kennerknecht, der sonst immer Fahrrad fährt,
aber wegen eines Einkaufs im Baumarkt ausnahmsweise sein Auto benutzte und "meine" Sendung im Autoradio mitbekam,
hat mich am nächsten Tag sofort angerufen und mir von seiner Prosopagnosieforschung (ich hörte davon zum ersten Mal)
berichtet. Ich dachte zu der Zeit der Radiosendung noch, dass es sich bei mir wirklich nur um eine - allerdings sehr
unangenehme - Macke handele. Es waren zu der Sendung als Experten auch zwei Doktoren der Psychotherapie eingeladen,
die aber keinen konkreten Rat wussten. Sie meinten nur, man könne sich durch Aufschreiben der auffälligen Merkmale der
Menschen etwas helfen. Das war schon lange für mich ein Hilfsmittel.
Als ich mit meinem Mann als weibliche Aufsichtsperson von achtzehn Abiturientinnen (von denen ich keine vorher kannte) in Rom war, habe ich mir während der langen Bahnfahrt aufgeschrieben: "Monika mit langen blonden Haaren, besonders hübsch; Susanne mit Brille, kurzen schwarzen Haaren;…" Später habe ich die Liste den Mädchen gezeigt, die sich herzlich darüber amüsiert haben. Nach einiger Zeit konnte ich die Mädchen auch so auseinander halten. Nachdem wir auch viele Fotos gemacht haben, kann ich auch heute noch die einzelnen identifizieren. Ich kann mir gut mit Fotos helfen: Wenn ich überlege, wie jemand aussieht, stelle ich mir das Foto vor. Ich könnte das Aussehen meines Mannes nicht aus dem Kopf heraus beschreiben. Ich muss mir ein Foto von ihm vorstellen, von dem ich das Gesicht meines Mannes ganz klar "ablesen" kann. Ich fotografiere deshalb auch sehr gerne Menschen, die ich neu kennen lerne und von denen ich denke, dass sie irgendwie in meinem Leben "wichtig" werden könnten. Betr. "Fotomerken" habe ich weitaus größere Fähigkeiten als mein Mann, der in keinster Weise "Betroffener" ist. Dann habe ich noch das Hilfsmittel, dass ich mir immer denke, der oder die sieht so ähnlich aus wie … Das sitzt dann in meinem Kopf etwas fest. Mein Mann amüsiert sich oft darüber und sagt, er sähe überhaupt keine Ähnlichkeit. Ich sehe da wohl mehr die Ähnlichkeit in Teilbereichen des Gesichts oder auch in der Mimik, nicht im Ganzen. Schlimm ist nur, dass so viele Menschen, hauptsächlich auch ältere Frauen, sich so ähnlich in ihrem Aussehen sind: graue "dauerwellige" Haare, Brille, etwas untersetzt. Da kapituliere ich total. Auch war es ein großes Problem für mich, unseren ältesten Enkel vom Kindergarten abzuholen: Die Jungens sahen für mich alle genauso wie unser Enkel aus: blonde kurze Haare, runde Gesichter. Ich war dann immer froh, wenn er mehr oder weniger freudestrahlend auf mich zulief.
Als ich ein junges Mädchen war, hatte ich immer ein großes Problem, mich mit jemandem in einem Lokal zu verabreden. Ich wusste nicht mehr, wie er aussah, und war dann glücklich, wenn sich derjenige durch Zeichen zu erkennen gab. Ich hätte sogar Schwierigkeiten, in einer großen Menschenmenge meinen Mann zu erkennen, es sei denn an seiner Kleidung oder an einer Geste. Wenn er anders als gewohnt gekleidet wäre und unbeteiligt vor sich hinschauen würde, hätte ich Schwierigkeiten, ihn zu finden.
Ich merkte schon als kleines Mädchen, dass ich Schwierigkeiten in dieser Hinsicht hatte. Als ich in die erste Klasse Volksschule (Grundschule) kam, setzte ich mich am zweiten Schultag in eine fremde Klasse und merkte es nicht (meine "richtige" Klasse war an dem Tag in einen anderen Raum umquartiert worden). Ich merkte auch nicht, dass eine andere Lehrerin vorne stand. Erst als die mich aufforderte, die Klasse wieder zu verlassen, bemerkte ich meinen Irrtum. Ich ging dann wieder nach Hause, weil ich nicht wusste, wie ich meine Klasse finden sollte. Darüber wurde zu Hause dann sehr gelacht.
Mit einer Tante, die mir sehr vertraut war, ging ich sonntags in eine Kirche. Ich sollte mich als Kind vorne in die erste Reihe setzen. Während des Gottesdienstes fiel mir heiß ein, dass ich nicht mehr wusste, wie meine Tante aussah. Ich litt Höllenqualen, da ich mich ja in der fremden Stadt auch nicht auskannte. Was war ich dann froh, als meine Tante nach der Messe lieb lächelnd auf mich zukam.
Als Zwanzigjährige stellte ich mich bei einem Rechtsanwalt vor, um dort eine neue Stelle anzutreten. Wir hatten ein schönes langes Gespräch; ich sollte dann am nächsten Ersten bei ihm anfangen. Als ich am ersten Arbeitstag vor dem Haus stand, merkte ich erst, dass in der Praxis drei Anwälte tätig waren. Den Namen "meines" Anwalts wusste ich ja, aber wie er aussah?! Ich hatte keinerlei bildhafte Vorstellung mehr von ihm, nur dass er sehr sympathisch war. Was war ich erleichtert, als nach meinem Klingeln der "richtige" Anwalt gleich an der Türe war und mich sehr freundlich begrüßte. Hätte einer der anderen Anwälte mich so nett begrüßt, ich wäre ihm auch in sein Zimmer gefolgt.
Ich könnte noch viele Beispiele aufführen, wo ich tüchtig ins Fettnäpfchen getreten bin durch diese meine "Teilleistungsschwäche des Gehirns". Es ist mir immer sehr unangenehm, wenn Menschen mich ansprechen, warum ich sie nicht grüße, wo ich sonst in der Bücherei (meine Arbeitsstelle) immer so nett zu ihnen sei. Ich versuche immer, durch die Reaktion der mir begegnenden Mitmenschen herauszubekommen, ob und wie intensiv wir uns kennen (wer dieser Mensch dann im Endergebnis ist, bleibt manchmal auch nach einem längeren Gespräch für mich im Dunkeln). Ich kann in dieser Beziehung aber recht gut bluffen, so dass der Gesprächspartner nicht merkt, dass ich ihn gar nicht erkannt habe. Das führte einmal zu einer Peinlichkeit: Mich sprach bei Aldi eine nette junge Frau an, die sich erkundigte, wie es meiner Mutter gehe (sie war damals 96 Jahre alt). Dann erzählte sie mir, wie sie es mit ihrer eigenen Mutter pflegerisch mache. Das war ein nettes längeres Gespräch. Ich wusste nicht, wer diese junge Frau war. Ich wusste aber, dass sie mich genau kannte. Wir wollten uns dann nett verabschieden. Ich sagte noch: "Grüßen Sie auch Ihre Mutter." Da meinte die junge Frau, ob sie in der Bücherei ehrenamtlich mitarbeiten könne, ob ich sie für geeignet hielte. Da musste ich nun wirklich wissen, mit wem ich mich die ganze Zeit so freundschaftlich unterhalten hatte. Ich löste dann das peinliche Problem mit meiner guten Bluffbegabung und sagte: "Mir liegt Ihr Name auf der Zunge; wie heißen Sie noch mal?" Als sie ihren Namen nannte, wusste ich, dass es sich um eine sehr gute Ausleiherin unserer Bücherei handelte, mit der ich schon öfters längere private Gespräche geführt hatte. Ich konnte mich dann auch an die Gespräche inhaltlich erinnern, dass ihre Mutter Krebs hatte etc. Wenn ich also den Namen eines Menschen weiß, habe ich eine sehr gute Erinnerung an all das, was mich mit dem Menschen verbindet. Das ist bei mir auch wieder ausgeprägter als bei meinem Mann.
Noch ein Beispiel von Peinlichkeit: Ein neuer Pfarrer wurde in unserer Gemeinde eingeführt. Ich war sehr an ihm interessiert, weil ich ja in Zukunft mit ihm wegen der Bücherei und anderer ehrenamtlicher Aufgaben viel zu tun haben sollte. Es war eine feierliche Messe; ich prägte mir extra intensiv sein Gesicht ein, damit ich ihn später wieder erkennen könnte. Nach dem Gottesdienst war ein feierlicher Empfang im Pfarrheim. Wir saßen an einem großen Tisch. Da kam ein netter Herr an unseren Tisch, setzte sich neben meinen Mann und unterhielt sich sehr intensiv mit ihm. Da mein Mann als Theologe hier auch gut bekannt ist, dachte ich mir nichts weiter dabei. Als sich die G elegenheit fand, flüsterte ich ihm zu, mit wem er sich so angeregt unterhalte. Da meinte er lächelnd, das sei doch der neue Pfarrer. Hätte er doch noch sein Priestergewand vom Altar angehabt, wie hätte ich ihn gut erkannt!
Eine unserer Töchter, die keineswegs "Betroffene" ist, wundert sich immer über mein Nichterkennen der Menschen. Sie meinte in ihrer jugendlichen Flapsigkeit, das läge bei mir bestimmt daran, dass ich mich zu wenig für die Mitmenschen interessierte. Das Gegenteil war und ist der Fall: Ich interessiere mich sehr für Menschen, aber weniger für ihr Aussehen. Mir ist das Aussehen eines Menschen ziemlich unwichtig. Das Aussehen prägt sich nur bei mir ein, wenn es sehr auffallend ist. Mir ist das Aussehen nur in der Beziehung sehr wichtig, dass ich den Menschen später wieder erkennen kann!"
A J Larner (2004) Lewis Carroll's Humpty Dumpty: an early report of prosopagnosia? J Neurol. Neurosurg.
Psychiatry 75: 1063, HISTORICAL NOTE
"In chapter 6, Alice notices that the egg that she has just purchased had eyes and a nose and mouth; and
when she had come close to it, she saw clearly that it was HUMPTY DUMPTY himself. ''It can't be anybody
else!'' she said to herself. ''I'm as certain of it, as if his name were written all over his face.''
Discussion follows, in which Humpty Dumpty, sitting precariously balanced upon a wall, gives his famous
definition of the meaning of a word (''just what I choose it to mean'') and coins the term ''portmanteau
word''. As Alice takes her leave of Humpty Dumpty, the subject of facial recognition recurs, in the following
exchange: ''Good-bye, till we meet again!'' she said as cheerfully as she could. ''I shouldn't know you again
if we did meet,'' Humpty Dumpty replied in a discontented tone, giving her one of his fingers to shake: ''you're
so exactly like other people.'' ''The face is what one goes by, generally,'' Alice remarked in a thoughtful tone".
''That's just what I complain of,'' said Humpty Dumpty. ''Your face is the same as everybody else has-the two eyes,
so-'' (marking their places in the air with his thumb) ''nose in the middle, mouth under. It's always the same.
Now if you had the two eyes on the same side of the nose, for instance- or the mouth at the top-that would be
some help.'' ''It wouldn't look nice,'' Alice objected.
In Lois Duncan's Autobiographie - Chapters, My Growth as a Writer (Little, Brown and Company, Boston, Toronto 1982 S. 31-32)
"If I meet someone new and analyze his looks, telling myself, "He has red hair and freckles and a hook nose," I
will remember the description, but I won't be able to bring to mind a picture of the face.
If two people fit the same description, I'm lost. I can't tell them apart
This may sound like a minor problem, even an amusing one, but it can make life a nightmare. My first year in junior
high school, I built a reputation as a snob because I never spoke to people in the halls or lunchroom. I wasn't
sure enough of their identities to risk it. What if I thought I knew them and really didn't. What if I called
them by the wrong names?
I had the same problem with teachers. I can recall one traumatic occasion when Mr. Strode, the principal, stuck
his head out into the hall as I was passing and said, "Lois, if you're headed for the lunchroom, would you please
ask Mrs. Romero to stop by my office for a moment?"
Mrs. Romero was my math teacher. She had brown hair and glasses. Miss Jacobis, my science teacher, also
had brown hair and glasses. When I reached the cafeteria, two women with glasses and brown hair were sitting
together at one of the tables. Despite the fact that I had taken classes from them for a whole semester, I
couldn't tell them apart."
Gedicht von Eugen Roth,
geb. 24. Januar 1895 in München; † 28. April 1976 in München
(Dieser Hinweis stammt von Frau Eichhorn)
Die guten Bekannten